Victor Jürgen von der Osten: Das Jahrhundert-Hochwasser - ein Zeitzeuge erinnert sich

In Ricklingen war man es seit eh und je gewöhnt, nahezu in jedem Jahr vom Hochwasser heimgesucht zu werden. So gut es eben ging, schützte man sich davor - z. B. durch eine von Holzplanken gehaltene Wand aus Mist und Erde, deren Steinstützen man noch heute in der Düsternstraße sehen kann - musste ansonsten aber mit diesem Naturereignis leben. Im Februar 1946 führte das Zusammentreffen verschiedener unglücklicher Umstände dazu, dass das Wasser eine bisher nicht bekannte Höhe erreichte, so dass es als "Jahrhundert-Hochwasser" in die Geschichte Ricklingens einging.

Ich erinnere mich noch, wie sich die Wassermassen in rasanter Geschwindigkeit über Ricklingen ergossen, so dass dieses und darüber hinaus weite Flächen Lindens und Hannovers bis fast zum Zentrum in den Fluten versanken. Markierungen an verschiedenen Häusern in Ricklingen verdeutlichen noch immer die extremen Wasserstände dieser Tage. Bei früheren Hochwassern ragte der höher als das übrige Dorf liegende Edelhof wie eine Insel aus der Flut heraus, so dass die Ricklinger Bauern ihr Vieh bei Gefahr vorsichtshalber hierher trieben. 1946 erreichte das Wasser aber auch die Gutsgebäude einschließlich Kapelle; im Gärtnerhaus stand es bis knapp unterhalb der die 1. Etage erschließenden Galerie, von wo aus die Bewohner versuchten, herumschwimmende Gegenstände zu "angeln".

Schrecklich anzusehen waren die im Wasser treibenden ersoffenen Tiere, insbesondere Kühe und Schafe. Zum Glück gelang es dem Bauern Großkopf, seine rund 400köpfige Schafherde nahezu vollständig zu retten, indem er mit Hilfe eines englischen Sergeanten Stück für Stück schulterte, um die Tiere auf den Boden seines Hauses zu bringen.

Neben diesen traurigen Bildern kann ich mich allerdings auch an lustige Geschichten aus jenen Tagen erinnern: So habe ich noch plastisch vor Augen, wie ein paar Engländer, die von einem Floß aus, das sie sich für eine Paddeltour aus alten Bäumen des Edelhof-Parks und kostbaren Möbeln des Herrenhauses gezimmert hatten, uns höhnisch mit dem Zylinder meines Vaters zuwinkten, dann aber, übermütig geworden, plötzlich kenterten. So lernte ich Schadenfreude kennen. - Besonderen Spaß hatten wir Kinder auch an unserem Klo: es befand sich im Hochparterre und stand schnell soweit im Wasser, dass wir es zwar noch benutzen konnten, unsere Beine aber schon im Wasser baumelten. Bald ging auch das nicht mehr, so dass wir zu unserer Freude den gefüllten Nachttopf zum Fenster hinaus entleeren durften.

Die Furcht, dass das Wasser einmal wieder so stark wie 1946 steigen könnte, führte wenige Jahre später zum Bau des Deichs. Dieser hat in vielen Jahren Ricklingen bei "normalen" Hochwassern geschützt; möge er nie seine Wirksamkeit bei Fluten à la 1946 beweisen müssen!

leicht gekürzte und geänderte Fassung eines Kapitels aus "Auf den Spuren Alt-Ricklingens" von Victor Jürgen v. der Osten
Aus: 50 Jahre Ricklinger Deich 1954 - 2004
Deichgrafen-Collegium Ricklingen, 01. Februar 2004

Weiter: Ernst Rohner

Aktualisiert: 11.01.2005