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Alfred Hagemann erinnert sich
Es hatte schon wochenlang geregnet und die Erwachsenen Geburtstagsgäste sprachen nur noch vom Hochwasser. Meine Eisenbahn interessierte mich aber viel mehr und so spielte ich den ganzen Tag damit. Am Montag, den 9. Februar, nachmittags kam das Wasser. Schnell, braungelb und dreckig. Ich war aus der Schule gekommen und fand alles sehr "aufregend". Meine Mutter war im Bäckerladen und bediente die Kunden, die sich noch mit Vorrat eindecken wollten. Alle Hausbewohner waren sehr beschäftigt. Sie räumten Ihre Keller leer. Ich stand überall im Weg, so bin ich auf die Nordfeldstraße gegangen und habe mich auf die Vorgartenmauer gesetzt, um dem Treiben zuzusehen. Einige Freunde kamen vorbei und wir haben uns über diese interessante Situation aufgeregt unterhalten. Dann nahm das seinen Verlauf, was später das Jahrhunderthochwasser genannt wurde: Das Wasser kam von der Klusmannstraße her und floss auf der Fahrbahn der Nordfeldstraße entlang bis auf den Ricklinger Stadtweg. Jemand wusste, wenn das Hochwasser über die Klusmannstraße hinaus kam, dann würden bei uns auch die Keller volllaufen. Er sollte Recht behalten. Es war später Nachmittag, als ein englischer Panzer - wir waren ja besetzte Zone, der Krieg war noch nicht lange zu Ende - durch die Nordfeldstraße fuhr. Seine Bugwelle schwappte von der Fahrbahn auf die Fußwege über und dann weiter durch die Kellerfenster in die Keller. Jetzt ging alles sehr schnell. Ich lief zurück ins Treppenhaus. Von dort konnte ich in den Keller sehen. Es schafften noch einige Hausbewohner Kartoffeln und Eingemachtes nach oben. Hier durfte ich helfen. Viele Vorräte wurden in die Wohnun-gen geschafft. Das Wasser stieg unaufhaltsam weiter und kam jetzt auch schon aus dem Keller in un-sere Wohnung und den Laden. Jetzt viel mir meine neue Eisenbahn ein. Sie stand doch auf dem Fußboden und der war schon unter Wasser. Später habe ich mich für diesen Egoismus geschämt, aber damals war mir die Eisenbahn wichtiger als alles Andere. Ich habe sie gerettet und in die erste Etage zur Familie Trebing gebracht. Meine Mutter hat bis zu den Knien im Wasser stehend, immer noch verkauft. Der Schneidermeister Trebing mit seiner Familie hat uns ganz spontan aufgenommen. Ihm haben wir es auch zu verdanken, dass wenigsten unsere Betten gerettet wurden. Matratzen und Bettzeug wurden auf den großen Schneidertisch gelegt. (Ich habe gut geschlafen, meine Mutter wohl weniger.) Die meisten Sachen blieben zurück und wurde überschwemmt. Das Wasser stieg immer höher. Weißer Dampf stieg aus dem Schonstein des Backhauses: "Jetzt ist der Ofen abgesoffen". Die Nacht brach an, es gab keinen Strom mehr, nur ein paar Kerzen, es war kalt und nass; es war schrecklich.
Dann, am Mittwoch, den 11. 2., ging das Wasser wieder langsam zurück und der angerichtete Schaden wurde sichtbar. Alles war mit dickem Schlamm überzogen. Das Holz der Schränke, Tische und Stühle, war gequollen, Sessel und Sofa vollgesaugt mit dreckigem Wasser. Alle Bäckereimaschinen waren unbrauchbar geworden und das Holz für das Gersterbrot war auch nicht mehr da, aber das Schlimmste: "Der Backofen muss neu gemauert werden". Das alles wieder in Stand zu setzen dauerte viele Wochen, ja sogar Monate und hat viel Geld gekostet. Es gab damals noch keine spontane Spendenaktion oder staatliche Hilfe; es war ja gerade erst der Krieg überstanden. Nachbarschaftshilfe wurde aber groß geschrieben. Dank vieler Helfer konnten die Schäden behoben und die Bäckerei bald wieder geöffnet werden. Aber die Nässe in den Wänden von Keller und Erdgeschoss war noch Jahre später zu spüren. 1947 hatten wir Ricklinger Glück, das neue Hochwasser kam nur bis zur Klusmannstraße. Text & Foto aus: 50 Jahre Ricklinger Deich 1954 - 2004 Weiter: Dr. Karl Benseler erinnert sich Aktualisiert: 28.01.2005 |
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